Rückblick

"Medienethik im Boulevard" - Herausforderungen für Journalismus, Publikum und Gesellschaft

Dass Journalist:innen von Boulevardmedien vor besonderen ethischen Herausforderungen stehen, liegt auf der Hand. Ihr Genre verlangt nach
Emotionen, nach Nahaufnahmen von Menschen in allen Lebenslagen, nach Verkürzung und Zuspitzung. Der Grat zwischen notwendigen Mitteln und unnötigem Übel ist mitunter extrem schmal.

Was macht diese Gratwanderung mit Journalist:innen des Boulevard? Wie nehmen sie diese wahr? Wie denken Sie selbst darüber? Welche
Entscheidungen treffen Sie vor welchen Hintergründen?

Über diese Fragen diskutierten am 16.11. in der Aula der Hochschule für Philosophie Prof. Dr. Volker Lilienthal (Universität Hamburg), Manfred Otzelberger (BUNTE) und die beiden Leiterinnen des zem::dg, Prof. Dr. Claudia Paganini (Hochschule für Philosophie München) und Prof. Dr. Annika Sehl (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt).

 

Volker Lilienthal hielt einen kurzweiligen und tiefgründigen Vortrag über Medienethik bei BILD.

Lilienthal eröffnete den Abend mit einem kurzweiligen, aber tiefgründigen Vortrag, in dem er die Ergebnisse seiner umfassenden Studie über „Medienethik bei BILD“ (https://zemdg.de/zemdg-studies/) vorstellte. 

Hierfür hatte Lilienthal nicht nur die Chance mit 43 Journalist:innen der Redaktion zu sprechen, sondern auch Beobachtungen in der BILD-Redaktion in Berlin zu machen. Seine Befunde sind aus medienethischer Sicht höchst relevant für eine tiefgründige Auseinandersetzung mit Boulevardjournalismus im Allgemeinen und mit dem Phänomen BILD im Besonderen. 

Sie zeigen, dass in der BILD-Redaktion sehr wohl im Einzelfall medienethische Debatten geführt werden, dass aber vor allem jede:r einzelne Journalist:in ethische Konflikte höchst unterschiedlich wahrnimmt, individuell mit ihnen umgeht und bisweilen auch unter ihnen leidet.

Die anschließende Podiumsdiskussion war geprägt von einer bereichernden Ergänzung der unterschiedlichen Perspektiven ihrer Teilnehmer:innen. Das empirisch gestützte Wissen Lilienthals ergänzte Manfred Otzelberger durch seine von der praktischen Erfahrung genährte Sicht. Otzelberger ist seit vielen Jahren Redakteur für Politik, Wirtschaft und Sport bei der BUNTEN. Er betonte, dass unterhaltende Inhalte unbedingt zum Journalismus gehörten und ein tief menschlichen Bedürfnis nach Klatsch bedienten. Dabei gehe es eben nicht darum, einen Menschen bloß zu stellen, sondern stets „den ganzen Menschen zu zeigen und nicht nur seine beispielsweise politische Funktion“.

Claudia Paganini erläutert die medienethische Perspektive.

Claudia Paganini blickte als Professorin für Medienethik auf Boulevardjournalismus und merkte an, dass das Phänomen komplexer sei. Sie plädierte dafür, das System in Blick zu nehmen, wie es der Ethiker Rüdiger Funiok in seinen Arbeiten nahegelegt habe. Ethische Entscheidungen, auch und gerade die fragwürdigen, seien immer vor dem Hintergrund des Systems zu betrachten, in dem Akteur:innen sich bewegten und dem sie sich unterordnen müssten. Lilienthal konnte dieser Sicht beipflichten und erläutern, dass BILD ein sich selbst bestätigendes System sei, auch weil die Redaktion mit „opportunen Zeugen“ arbeite, die als Expert:innen die Haltung des Blattes untermauerten. Zu diesem System gehöre es, dass eine Folgenabwägung der Berichterstattung unerwünscht sei.

Impressionen der Diskussion: Manfred Otzelberger im Gespräch mit Sonja Kretzschmar und Volker Lilienthal diskutiert mit Claudia Paganini und Sonja Kretzschmar.
Annika Sehl im Gespräch mit Manfred Otzelberger.

Die Journalistik-Professorin Annika Sehl betonte, dass dem Boulevardjournalismus mit seiner leicht verständlichen Lektüre innerhalb des Mediensystems auch eine verbindende Funktion zwischen Informations- und Unterhaltungsangeboten zugeschrieben werde, die er im Idealfall einnehmen könne. Denn er erreiche unter anderem Zielgruppen, die sich nicht direkt Informationsangeboten wie Nachrichten zuwendeten, sondern eher Unterhaltungsangeboten. Um diese Funktion aber wirklich gewinnbringend im Sinne der Demokratie erfüllen zu können, setze es zum einen voraus, dass die gesellschaftlich relevanten Themen tatsächlich in der Berichterstattung vorkämen, auch jenseits des Sensationellen oder Empörenden. Zum anderen sei es dafür grundlegend, auch Hintergründe bei oftmals komplexeren politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen zu vermitteln und nicht nur vereinfachte Sichtweisen.

Prof. Dr. Sonja Kretzschmar von der Universität der Bundeswehr München moderierte den Abend und eröffnete mit spannenden Nachfragen neue Facetten der Diskussion. Fragen kamen später auch aus dem Publikum, so zum Beispiel zu der offensichtlich ablehnenden Haltung der BILD gegenüber öffentlich-rechtlichen Medien, was Lilienthal nur bestätigen konnte.

Was also kann als Fazit des Abends gesehen werden? Sicher, dass Boulevardjournalismus ein relevantes Genre unserer Medienlandschaft ist, dass er vor besonderen ethischen Herausforderungen steht, dass aber medienethische Entscheidungen vor dem Hintergrund der Person, des Systems und natürlich des Publikums gesehen werden müssen. So konnte das Podium alle Gäste im Saal in die Pflicht nehmen – Medienschaffende, Wissenschaftler:innen, Studierende ebenso wie eine breite interessierte Öffentlichkeit.

Gegen Ende der Diskussion stand noch eine langjährige Mitarbeiterin des zem::dg im Mittelpunkt: Dr. Susanna Endres, die das zem::dg Ende September 2023 verlassen hat und seitdem Professorin für Pädagogik mit Schwerpunkt Medienpädagogik und Digitale Bildung an Fakultät für Soziale Arbeit der Katholischen Stiftungshochschule München (KSH) ist.

Susanna Endres hat das zem::dg von Beginn an begleitet und stark mitgeprägt. In beinahe sieben Jahren hat sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an Forschungsprojekten und Publikationen mitgewirkt, Kooperationen mitaufgebaut und gepflegt und Lehrveranstaltungen maßgeblich mitkonzipiert und umgesetzt. Durch ihre kreativen Ideen, ihren engagierten Einsatz, vor allem aber durch ihre fachliche Kompetenz hat Endres das zem::dg wesentlich weiterentwickelt. Annika Sehl hob in ihrer Dankesrede insbesondere Susanna Endres‘ große Leistungen bei der Entwicklung und Betreuung der Online-Kurse zur Medienethik sowie zur Ethik der digitalen Kommunikation im Verbund „Virtuelle Hochschule Bayern“ hervor und gratulierte ihr im Namen des zem::dg-Teams zur Professur.

Gratulation für Susanna Endres (rechts): Annika Sehl dankt für die langjährige Mitarbeit am zem::dg.

 

Alle Fotos: A. Franzetti/zem::dg

Medienethik im Boulevard

Daten zur Veranstaltung:

Was?  Vortrag und Podiumsdiskussion

Wann? 16. November 2023; 19:00-21:30 Uhr

Wo? Hochschule für Philosophie München, Kaulbachstraße 31/33, 80539 München; Aula

Wer? Eine Veranstaltung des zem::dg

 

Foto oben: Adobe Stock/blende11.photo

 

Wir bitten um eine Anmeldung bis zum 6. November 2023.

Für die Anmeldung klicken Sie bitte HIER oder nutzen Sie den QR-Code:

 

Worum es geht

Boulevardmedien sind umstritten. Bis an die Grenzen zu gehen und darüber hinaus, gehört bei ihnen zum Programm. Hier geht es darum, sprachlich und visuell Emotionen zu erzeugen, manchmal zu provozieren. Dass dabei auch gegen ethische Standards verstoßen wird, belegen die Zahlen: Die BILD-Zeitung zum Beispiel ist das vom deutschen Presserat am häufigsten gerügte Blatt. Zugleich aber ist die Zeitung mit einer verkauften Auflage von 1,11 Mio. im zweiten Quartal 2023 die auflagenstärkste überregionale Tageszeitung in Deutschland. Nicht zuletzt die Reichweite der Boulevardmedien macht „Medienethik im Boulevard“ zu einem relevanten Thema.

Die Perspektive

Prof. Dr. Volker Lilienthal, Professor für Praxis des Qualitätsjournalismus an der Universität Hamburg, hat sich in einer umfassenden Studie mit Medienethik bei BILD befasst. Neben einer Inhaltsanalyse und einer ausführlichen Bibliografie zur Forschung über BILD fußt seine Arbeit auf Beobachtungen in der Redaktion und auf 43 Experteninterviews mit Mitarbeiter:innen der BILD-Redaktionen. Lilienthal konnte als Wissenschaftler Inneneinsichten in die Arbeit bei BILD bekommen und diese systematisch analysieren. Ihn leitete unter anderem die Frage, ob und inwiefern medienethische Überlegungen in redaktionelle Entscheidungen einfließen. Seine Ergebnisse sind in der Reihe zem::dg Studies veröffentlicht. Vor der Diskussionsrunde wird er sie in einem kurzen Impulsvortrag vorstellen.

 

Mit Lilienthal diskutieren: Manfred Otzelberger, Redakteur für Politik, Wirtschaft und Sport bei der BUNTEN, sowie die beiden Leiterinnen des zem::dg, Prof. Dr. Claudia Paganini, Professorin für Medienethik an der Hochschule für Philosophie München und Prof. Dr. Annika Sehl, Inhaberin des Lehrstuhls für Journalistik mit dem Schwerpunkt Medienstrukturen und Gesellschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Das Gespräch moderiert Prof. Dr. Sonja Kretzschmar, Professorin für Innovation im Journalismus an der Universität der Bundeswehr München.

Wir laden Sie herzlich ein, Vortrag und Diskussion mitzuerleben und mitzudiskutieren. 

Wir freuen uns auf Sie!

Auf dem Podium:

Prof. Dr. Volker Lilienthal

 

ist Inhaber der Rudolf-Augstein-Stiftungsprofessur für Praxis des Qualitätsjournalismus. Bis zu seiner Berufung an die Universität Hamburg im Jahre 2009 war er Verantwortlicher Redakteur des Fachdienstes „epd medien“ in Frankfurt am Main. Als unabhängiger Sachverständiger wurde Lilienthal 2019 in den Verwaltungsrat des Deutschlandradios gewählt. Seit 2005 wirkt er in der Jury des Otto Brenner Preises für Kritischen Journalismus mit. Seinen Abschluss als Diplomjournalist machte er 1983 an der heutigen TU Dortmund; 1987 promovierte er in Germanistik an der Universität-GH Siegen.

 

(Foto: Malte Joost/lets-get-visual.com)

 

Manfred Otzelberger

 

ist seit 2007 als Redakteur bei der BUNTEN zuständig für Politik, Wirtschaft und Sport. Zuvor war er Lokaljournalist in Bayreuth. Otzelberger ist Journalisten-Preisträger des Verbandes der Bayerischen Bezirke und Vorstandsmitglied im PresseClub München e.V.  An der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) studierte er Diplom-Journalismus, außerdem ist er Absolvent der Deutschen Journalistenschule (DJS). Über sein berufliches Selbstverständnis sagt er: „Ich stehe für einen Journalismus, der seriös, aber auch unterhaltsam ist und auf den ganzen Menschen eingeht, ihn also nicht nur von der Funktion her betrachtet. Insofern kann das Private auch politisch sein.“ 

 

(Foto: Christine Pettinger/BUNTE)

 

Prof. Dr. Claudia Paganini

 

ist Inhaberin der Professur für Medienethik an der Hochschule für Philosophie München. Nach einer Promotion in Kulturphilosophie arbeitete sie einige Jahre als Journalistin und Pressesprecherin. Nach ihrer Habilitation im Bereich der Medienethik war sie als Gastdozentin an den Universitäten in Mailand, Athen, Zagreb und Limerick. Neben der Medienethik forscht sie auch zu Fragen der Bioethik bzw. in grenzübergreifenden Themenfeldern. Sie ist Sprecherin der DGPuK-Fachgruppe „Kommunikations- und Medienethik“, Koordinatorin des Netzwerkes Medienethik, Co-Leiterin des zem::dg und Mitglied in verschiedenen Ethikkommissionen.

 

(Foto: privat)

 

Prof. Dr. Annika Sehl

 

ist Inhaberin des Lehrstuhls für Journalistik mit dem Schwerpunkt Medienstrukturen und Gesellschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und Co-Leiterin des zem::dg. Sie ist zudem Research Associate des Reuters Institute for the Study of Journalism der University of Oxford. Zuvor war sie Professorin für Digitalen Journalismus an der Universität der Bundeswehr München und vertrat Professuren an der TU Dortmund und der Universität Hamburg. Sie ist aktuell Chair der Journalism Studies Division der International Communication Association (ICA), Mitglied im Projektteam Lokaljournalisten der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) und im Rat für die zukünftige Entwicklung der öffentlich-rechtlichen Medien (Zukunftsrat). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Journalismusforschung und international vergleichende Forschung, insbesondere zu öffentlich-rechtlichen Medien und dem digitalen Wandel.


(Foto: Christine Blohmann, Die Hoffotografen Berlin)

Moderation:

 

Prof. Dr. Sonja Kretzschmar 

 

ist Professorin für Innovation im Journalismus an der Universität der Bundeswehr München. Sie promovierte in Journalistik und arbeitete mehrere Jahre als Journalistin, vor allem für die den Tagesthemen in der Redaktion von ARD Aktuell. Nach Stationen an der Universitäten Erfurt, Münster, Leipzig, der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen und der University of Southern California, LA, wurde sie an die Universität der Bundeswehr München berufen. Dort ist sie Prodekanin der Fakultät Betriebswirtschaft und im Studiengang Management und Medien für die Medienethik zuständig. Sie leitet das internationale Forschungsprojekt „Media for Peace“, das im Rahmen des dtec.bw – Zentrum für Digitalisierungs- und Technologieforschung gefördert wird und sich auf ethisch nachhaltigen und friedensfördernden Journalismus fokussiert.

 

(Foto: privat)

Wir bitten um eine Anmeldung bis zum 6. November 2023.

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