Flucht als Krise?

Neue Studie zur Berichterstattung über Flucht, Migration und Integration und zur themenbezogenen Aneignung durch Kinder und Jugendliche

Flucht, Migration und Integration sind zentrale Themen gesellschaftspolitischer Diskussionen und medialer Berichterstattung in Deutschland. In dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsprojekt „Flucht als Krise?“ wurde untersucht, wie über diese Themen berichtet wird und wie sich Kinder und Jugendliche diese Themen aneignen. Im Fokus standen somit Heranwachsende – eine mit Blick auf ihre politische Sozialisation besonders relevante und doch selten untersuchte Altersgruppe. Das Forschungsprojekt wurde aus medienethischer Sicht begleitet.

Im jetzt veröffentlichten Buch werden zwei komplementäre Teilstudien vorgestellt. Zum einen wurde an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf eine standardisierte Inhaltsanalyse der Berichterstattung von Print-, TV-, Radio- und Online-Angeboten für Heranwachsende und Erwachsene durchgeführt. Zum anderen wurde am JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis in einer qualitativen Studie ermittelt, wie sich Kinder und Jugendliche medial vermittelte Informationen zu Flucht, Migration und Integration aneignen und wie sie mit den gesellschaftspolitischen Diskussionen und den humanitären Problemlagen von Geflüchteten umgehen. In abschließenden Reflexionen werden die Ergebnisse der Studien aus kommunikationswissenschaftlicher, medienpädagogischer und medienethischer Perspektive diskutiert, wobei die medienethische Einordnung durch das Zentrum für Ethik der Medien und der digitalen Kommunikation erfolgt.

Die Studie ist nun online verfügbar und beim kopaed-Verlag erhältlich.

 

Zentrale Ergebnisse des Forschungsprojektes

Zentrale Ergebnisse der Medienanalyse sind:

  • Deutschlandzentrierte Berichterstattung. Im Vordergrund der Berichterstattung standen vor allem Ereignisse, die in Deutschland stattfanden. Ein Großteil der medialen Berichte thematisierte Probleme in Deutschland, für die deutsche politische Akteure verantwortlich seien und die durch Maßnahmen in Deutschland gelöst werden könnten. Die Situation in den Herkunftsländern der Geflüchteten, Ereignisse während der Flucht oder Entwicklungen in anderen Aufnahmeländern als Deutschland standen deutlich seltener im Fokus der Berichterstattung.
  • Berichterstattung über Flucht, Migration und Integration negativ und ereigniszentriert. Der Zuzug von Flüchtlingen wird beispielsweise häufiger als Gefahr und seltener als Chance bewertet. Flüchtlinge selbst bleiben in der Berichterstattung eine weitgehend stimmlose Masse, die nur selten zu Wort kommt. Dabei wird spezifischen Ereignissen besondere mediale Aufmerksamkeit geschenkt.
  • Unterschiede in der Berichterstattung von Medienangeboten für Erwachsene und Medienangeboten für Heranwachsende: Letztere liefern häufiger Hintergrundinformationen, die zum Verständnis und zur Einordnung des politischen wie gesellschaftlichen Diskurses über Flucht, Migration und Integration wichtig sind. Zudem wurde in den Medienangeboten für Heranwachsende ausgewogener über Maßnahmen zur Liberalisierung und Begrenzung des Flüchtlingszuzugs berichtet.
  • Dominante Thematisierung männlicher Flüchtlinge aus wenigen Herkunftsländern: Männliche Flüchtlinge werden weitaus häufiger thematisiert und auf Bildern und Videos dargestellt als weibliche Flüchtlinge. Darüber hinaus wird deutlich, dass vor allem über Menschen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan berichtet wurde. Ein Abgleich mit der Asylstatistik zeigt, dass männliche Flüchtlinge in der Berichterstattung überrepräsentiert waren, während die mediale Repräsentation unterschiedlicher Nationalitäten der Asylstatistik ähnelte – mit Ausnahme von Menschen aus Afghanistan, die in den Medien überrepräsentiert waren.

Zentrale Ergebnisse der Aneignungsstudie sind:

  • Heranwachsenden nehmen das Thema Flucht vor allem über Medien wahr. Eine teilstandardisierte Befragung der 10- bis 16-jährigen Studienteilnehmer*innen hat gezeigt, dass vor allem das Internet und Fernsehen die Orte sind, an denen sie dem Thema begegnen. Gerade nicht-journalistische Inhalte in Social-Media-Angeboten können in dem Zusammenhang auch herausfordernd für Kinder und Jugendlichen sein, wenn sie dort lebensbedrohliche Situationen für Geflüchtete, Anfeindungen in Online-Diskussionen, Inhalte mit rassistischen Übergriffen oder (aus ihrer Sicht) extremistische Botschaften wahrnehmen. Nichtmediale Berührungspunkte, wie etwa in der Schule, der Familie oder der direkte Kontakt zu Geflüchteten spielen demnach für die meisten Befragten eine untergeordnete Rolle.
  • Von Heranwachsenden angesprochene Themenfacetten von Flucht, Migration und Integration stimmen weitgehend mit den Ergebnissen der Medienanalyse überein – mit einem gewichtigen Unterschied. Die Heranwachsenden benannten ein Spektrum von Themen, das sich zu drei Problemfeldern bündeln lässt: die humanitäre Notlage der Geflüchteten, eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie Brüche in der Gesellschaft. Auffällig ist, dass eine ausgeprägte Problemwahrnehmung in diesen Bereichen mit einer bedeutenden Rolle von Medien und medialer Kommunikation zusammenfällt. Ein Themenaspekt, den ein Teil der befragten Heranwachsenden weniger in der journalistischen Berichterstattung und eher in Social Media oder im nichtmedialen Alltag verortet, sind Diskriminierungserfahrungen in Deutschland.
  • Trotz der gesellschaftlichen Kontroverse um das Thema Flucht bleiben Kinder und Jugendliche weitgehend Rezipientinnen und Rezipienten. Social-Media-Angebote spielen für den Kontakt mit dem Thema zwar eine Rolle, nur wenige suchen hier aber gezielt nach themenbezogenen Informationen. Auch für die Kommunikation über das Thema Flucht oder die Beteiligung an themenbezogenen Diskussionen nutzen Heranwachsende kaum Social-Media-Angebote.
  • Die Heranwachsenden formulieren hohe Ansprüche an die Qualität der Darstellung des Themas Flucht, Migration und Integration in der klassischen Berichterstattung und in Social Media. Die Heranwachsenden beziehen sich bei der Bewertung der Angebote weitgehend auf gängige journalistische Qualitätsmaßstäbe. So erwarten die Befragten von Medienbeiträgen über das Thema eine wahrheitsgetreue Darstellung. Zudem ist ihnen eine unverfälschte und ausführliche Kontextualisierung wichtig. Neben solchen journalistischen Maßstäben spielt für sie aber auch Glaubwürdigkeit eine Rolle.

Kontakt zum Forschungsteam

Kontakt für die Medienanalyse

Prof. Dr. Gerhard Vowe (vowe@uni-duesseldorf.de)

PD Dr. Marco Dohle (Marco.Dohle@hhu.de)

Dr. Ole Kelm (Ole.Kelm@uni-duesseldorf.de)

Kontakt für die Aneignungsstudie

Dr. Niels Brüggen (niels.brueggen@jff.de)

Eric Müller (mail@eric-mueller.net)

Christa Gebel (christa.gebel@jff.de)

Maximilian Schober (maximilian.schober@jff.de)

Handreichungen für die Praxis

Konkrete Handreichungen für die journalistische Arbeit und pädagogische Praxis liegen bereits vor:
• JFF – Institut für Medienpädagogik (2020): Flucht in den Medien. Arbeitshilfe – Handreichung – Materialpaket
• Gabriele Hooffacker (2020): Journalistische Praxis: Konstruktiver Journalismus

 

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